Alles ist gut vorbereitet. Der Weihnachtsbaum geschmückt. Liebevoll verpackte Päckchen liegen darunter. Ein letzter, prüfender Blick auf den gedeckten Tisch. Dort steht und liegt alles, wie es sein soll.
Auch in diesem Jahr hat Caroline sich nicht von der Weihnachtshektik anstecken lassen. Aber jetzt ist sie ein wenig aufgeregt. "Freude steht dir gut, meine Liebe", sagt Achim und legt seiner Frau den Arm um die Schultern. Gemeinsam gehen die beiden zur Haustür. Sie halten Ausschau. Die Kinder müssten in wenigen Augenblicken wieder zurück sein.
"Keine Sorge, Caroline! Es ist nichts passiert. Robin und Alana sind vorsichtige Autofahrer. Vielleicht stehen sie in einem Stau. Obgleich ich mir das nicht vorstellen kann. Heiligabend ist eigentlich nie etwas los auf den Straßen", wollte Achim gerade sagen, als mit lautem Gehupe ein Auto vor dem Haus anhält.
"Oma, Opa!", ruft ein etwa vier Jahre altes Mädchen und läuft Caroline direkt in die Arme. Dann wendet es sich seinem Opa zu, umarmt ihn heftig und fragt: "Hast du dir wieder ein neues Weihnachtsmärchen für mich ausgedacht, Opa?"
"Natürlich, meine Kleine. Nach der Bescherung werde ich dir die Geschichte vorlesen. Einverstanden?"
"Ach, Mano, Opa! Da muss ich ja viel zu lange warten. Kannst du nicht sofort erzählen?"
Robin nimmt seine Tochter an die Hand. "Das geht jetzt nicht, Destiny. Zuerst wollen wir Mittag essen. Du bist doch auch hungrig. Oma hat bestimmt wieder ein Überraschungsessen für uns."
"Ja, gut. Und nach dem Essen gehen wir zum Strand. Dann ist Bescherung und dann kann Opa mir seine Geschichte erzählen. OK?"
Voller Stolz sieht Robin Destiny an. Wie sehr sie ihrer Mutter gleicht!
Die gleichen grünen Augen. Das gleiche rotblonde, lange Haar. Ebenso die entzückende Stupsnase, behaftet mit fünf Sommersprossen in gerader Linie.
Leichter Nieselregen begleitet den Strandspaziergang. Er stört nicht. Destiny genießt es in den Pfützen herum zu planschen. Eifrig sucht sie nach Muscheln und Seesternen.
"Guck mal, Papa! Die dicke Möwe hat gar keine Angst vor mir! Schade, dass wir kein altes Brot mitgenommen haben. Wissen die Möwen eigentlich, dass heute Weihnachten ist, Papa?"
"Gute Frage, meine Kleine. Beantworten kann ich sie dir leider nicht. Robin und Alana nehmen ihre Tochter in die Mitte und laufen zum Wasser. Die dicke Möwe trippelt hinterher. Ab und zu bleibt sie stehen und starrt den jungen Menschen nach. Robin dreht sich um. Die Möwe steht vor ihm, macht keine Anstalten, weg zu fliegen. Aus Kohlraben schwarzen Augen taxiert sie ihr Gegenüber. Langsam, sehr langsam streckt die Erinnerung ihre Fangarme Robin entgegen. Die Möwe krächzt ungewöhnlich leise: "Stürom, Stürom!" Es klingt wie komm, komm, denkt Robin. Machtvoll verdrängt die Erinnerung die Gegenwart. Erstaunt, jedoch voller Zweifel betrachtet Robin die Möwe. Ist es möglich? Kassandra! Botschafterin meines Glücks!
"He, Papa! Träumst du?"
"Nein, Schätzchen. Mir ist gerade eine Geschichte eingefallen. Ich möchte sie dir gerne erzählen. Mama kennt diese Geschichte schon lange. Doch ich glaube, sie hört sie immer wieder gern:
Da! Da ist sie wieder. Die dicke Möwe sitzt auf dem Fensterbrett. Neugierig schaut sie durch das Küchenfenster. Seit einigen Tagen kommt sie. Immer in der Mittagszeit. Robin stellt sich auf das Fußbänkchen.